Vergeblich gesucht: Privatsphäre im Krankenhaus

In meinem Krankenhaus gibt es, glaube ich zumindest, durchschnittlich pro Station eine spanische Wand. Immerhin, diese Sichtschutzvorhänge haben Räder, man kann sie also leicht in jedem Zimmer einsetzen. In Wahrheit verstauben die Dinger aber in irgendeinem Materialraum, in der Ecke hinter Kartons und defekten Rollatoren. Dabei gäbe es reichlich Verwendung für sie.

Vor allem auf einer Station wie meiner, mit vielen pflegebedürftigen Patienten. Menschen, die ohne Hilfe nicht aus dem Bett kommen und dann auch häufig noch unter Inkontinenz leiden. Da werden schmutzige Windeln im Bett gewechselt, unter den Augen der Mitpatienten im Zimmer. Das Komische ist: Den Betroffenen selber scheint das überhaupt nichts auszumachen. Bei vielen wirkt es, als hätten sie ihre Privatsphäre und ihr Schamgefühl abgegeben, als sie das Haus betraten – oder hineingeschoben wurden. Klar, es gibt auch welche, denen es unangenehm ist, wenn sie sich in die Hose gemacht habe und Hilfe brauchen, und die das auch sagen. Aber solche Äußerungen höre ich selten.

Woran das liegt? Schwer zu sagen. Generell ist das Krankenhaus kein sehr privater Ort. Das geht schon bei der Visite los. Besucher von Mitpatienten werden zwar aus dem Zimmer gebeten. Aber die Zimmergenossen hören natürlich alles. Und das gilt auch für Gespräche, in denen Ärzte schwerwiegende Diagnosen mitteilen. Ich habe selber die Erfahrung noch nicht gemacht, als Patient im Krankenhaus zu liegen. Ich könnte mir denken, dass aufgrund der besonderen Situation – die Enge, die Krise einer Krankheit, Ängste – sehr schnell eine gewisse Distanz verloren geht. Oft beobachte ich, dass Patienten sich schnell anfreunden, sich helfen. Andere blaffen sich nach kurzer Zeit an wie alte Ehepaare.

Zwischen den Bettlägerigen und den Mobilen gibt es noch eine große Gruppe von stark Eingeschränkten. Wer dazu in der Lage ist und sich rechtzeitig meldet, wird auf einen WC-Stuhl gesetzt. Da die Stühle Rollen haben, bieten sie die Chance, ins Bad gefahren zu werden und dort für sich zu sein. Aber das passiert häufig nicht. Das liegt nicht nur daran, dass Pfleger nicht darauf achten. Erst vor ein paar Tagen habe ich einer alten Dame, die schon ein paar Tage bei uns war, auf den Toilettenstuhl geholfen und ihr angeboten, sie ins Bad zu bringen. Das wollte sie aber nicht, sie sitze gut. Obwohl ihre Mitpatientin gerade Besuch von ihrer Tochter hatte.

Soll man das den Leuten vorwerfen? Viele kommen aus Heimen oder haben zu Hause ambulante Hilfe. Sie sind es gewohnt, dass Ihnen fremde Menschen sehr nahe kommen. Aber was könnten die Kliniken tun, um ihre Patienten besser zu schützen? Sichtschutz zwischen allen Betten – auf Überwachungsstationen ist das die Regel. Der Grund: Es gibt dort keine Trennung zwischen Männer- und Frauenzimmern. Aber was spricht dagegen, solche Lösungen auf allen Stationen zu installieren? Ähnlich wie Duschvorhänge, die man mit einem Handgriff auf- oder zuziehen kann. Die Kosten wären sicher überschaubar. Und bestimmt würden viele Patienten darin auch die Botschaft erkennen, dass sich jemand Gedanken über den Schutz ihrer Privatsphäre macht.

2 Gedanken zu „Vergeblich gesucht: Privatsphäre im Krankenhaus

  1. Herr Fussel

    Der Artikel gefällt mir gut 🙂 Mir fiel dabei noch ein weiterer Aspekt ein: Wenn ich mich in ein Krankenhaus begebe, dann füge ich mich in ein System mit vordefinierten Abläufen ein. Ich passe mein Verhalten an. Und als Patient im Krankenhaus häufig auch länger. Sogar alltägliche Gewohnheiten, die sich zu Hause über Jahre eingeschliffen haben, werden im geänderten Kontext des Krankenhauses aufgegeben (und nach der Rückkehr zu Hause wahrscheinlich schnell wieder aufgegriffen). Ich höre öfter, dass Verhalten und Gewohnheiten unsere Normen (und Werte) abbilden. Vielleicht können ein anderes Verhalten und geänderte Gewohnheiten aber auch unsere Normen und damit das Schamgefühl verändern. Und was uns in einem anderen Kontext wichtig war, ist es im Krankenhaus nicht mehr so stark.

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    1. misterpfleger Autor

      Ich gebe dir Recht, der Kontext spielt eine große Rolle, wie schon in einem andern Kommentar bemerkt. Im Schwimmbad ist es normal, sich kaum bekleidet in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das heißt aber nicht, dass ich im gleichen Outfit durch die Fußgängerzone laufe. Was mir gerade noch einfällt: Diese Akzeptanz der verschobenen Schamgrenze, die beobachte ich auch bei den Mitpatienten. Nicht selten liegen ja in einem Zweierzimmer eine selbstständige und eine hilfsbedürftige Patientin. Nun könnte ja die mobile Patientin den Raum verlassen, wenn die andere gerade versorgt wird. Stattdessen beobachhte ich bei diesen Leuten auch immer wieder, wie soll ich es nennen, eine hohe Toleranzschwelle, ein dickes Fell oder Gleichgültigkeit. Offenbar scheinen auch diese Patienten im Krankenhaus andere Regeln für gültig zu halten.

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