Nadja Rakowitz engagiert sich für ein besseres Gesundheitssystem. Sie ist Geschäftsführerin beim „verein demokratischer ärzt*innen“ und engagiert sich im Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“. Mit dem Pflegeblog sprach die Medizinsoziologin über die Pläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach für eine Reform des Gesundheitswesens – über Widersprüche der bisherigen Äußerungen, wo Deutschland bei der Pflege international „unterirdisch“ abschneidet und wieso die Ärzte heute zwischen den Stühlen sitzen.
Was halten Sie von den Vorschlägen für eine Reform des Gesundheitswesens, wie sie Karl Lauterbach ins Spiel gebracht hat?
Erstmal finde ich interessant, dass die Analyse der bestehenden Probleme eine wirklich neue Qualität hatte. Bei der Vorstellung der Pläne von Lauterbach und drei Mitgliedern der zuständigen Kommission hieß es nicht wie sonst immer: Wir drehen an Stellschrauben. Stattdessen wird erstmals das System infrage gestellt. Das war eine Bankrotterklärung der DRGs, die seit fast 20 Jahren ein Grundpfeiler sind. Das Fallpauschalensystem setzt Fehlanreize, Entscheidungen werden aus ökonomischen Gründen statt aus medizinischen gefällt. Wir brauchen eine dramatische Entökonomisierung, das war der Tenor. Die Überwindung der DRGs wurde angekündigt.
Das klingt nach einem Umdenken.
Das wird man beobachten müssen. Weiterhin grenzten sich Karl Lauterbach und Christian Karagiannidis mehrmals von der Selbstkostendeckung ab, früher hat man das Wort nicht einmal in den Mund genommen. Dabei geht es darum, den Kliniken ihre angefallenen Kosten für das, was medizinisch notwendig ist, 1:1 zu erstatten. Das sind durchaus bemerkenswerte Signale.
Was sind nun die konkreten Veränderungen, die ins Spiel gebracht werden?
Erstens gibt es die organisatorische Idee, die Kliniklandschaft in drei Level aufzuteilen, von kleinen Häusern für die Grundversorgung (Level 1) bis zu großen, hochspezialisierten wie z.B. die Uni-Kliniken. Darüber hinaus werden die Leistungen in einzelne Leistungsgruppen kategorisiert, die Fachabteilungen der Kliniken zugeordnet werden. Das soll gewährleisten, dass bestimmte Behandlungen dort gemacht werden, wo die Versorgung mutmaßlich am besten ist. Nach unserer Ansicht ist das ein starker politischer Eingriff ist, den wir begrüßen. Es gibt aber einen Nebeneffekt, der vielleicht sogar der gewollte Haupteffekt ist: Man kann damit Schließungen von Krankenhäusern begründen, vor allem beim Level I. Kliniken ohne Notaufnahme (Level 1i) könnten schnell unter Druck geraten und als eine Art bessere Pflegeheime enden.
Sie haben die Finanzierung angesprochen, wie sieht es da aus?
Eine vernünftige Finanzierung wäre nach unserer Auffassung dieselbe wie bei der Feuerwehr. Die Kollegen werden dort dafür bezahlt, dass sie abrufbereit sind, nicht nach Einsätzen. Nun wird so getan, als wären wir bei den Kliniken auf dem Weg dorthin, aber das ist ein Etikettenschwindel, die Rede ist von Vorhaltepauschalen über 20 % des DRG-Volumens. Die DRGs sollen also bestehen bleiben, es gibt auch nicht mehr Geld, sondern nur eine andere Art der Verteilung von einem Teil der Erlössumme der Krankenhäuser. Und es gibt wieder ökonomische Kriterien. Beim Pflegebudget, das seit 2020 für Pflege am Bett gilt, ist das anders: Hier wird jede Stelle voll refinanziert. Was allerdings auch schwierig ist in einer ökonomisierten Umgebung und den Druck auf andere Berufsgruppen erhöht, denn Gewinne können ja nur aus den DRGs gezogen werden. Wir sagen stattdessen: Solange die DRGs nicht ersetzt werden durch ein Selbstkostendeckungsprinzip müssen alle Berufsgruppen raus aus den DRGs.
„Eine vernünftige Finanzierung wäre nach unserer Auffassung
Nadja Rakowitz
dieselbe wie bei der Feuerwehr“
Die Abkehr von den ökonomischen Zwängen ist bei den jetzigen Plänen also nur halbherzig?
Genau, deshalb brauchen wir ein Selbstkostendeckungsprinzip! Ein Einwand dagegen ist immer, dass man so einen Selbstbedienungsladen schaffe. Das kann man aber mit entsprechenden Kontrollen verhindern. Private Betreiber könnten innerhalb dieses Prinzips sowieso keine Gewinne mehr rausziehen. Die Privaten haben sich schon beschwert, als die Pflege aus den DRGs herausgenommen wurde, weil sie aus der Pflege keine Gewinne mehr ziehen können. Das Problem der DRGs ist: Auch die Nonprofit-Häuser (öffentliche und freigemeinnützige) werden gezwungen, sich wie Private zu verhalten, dem ökonomischen Druck kann sich keiner entziehen.
Sie haben von Widersprüchen in dem Papier gesprochen. Können Sie das näher erläutern?
Das Papier ist voller Widersprüche, z.B. werden die vorgeschlagenen Vorhaltepauschalen sofort wieder infrage gestellt und gesagt: Kann man denn Geld verteilen, wo noch keine Leistung erbracht wurde? Man muss aufpassen, dass nicht wieder falsche Anreize entstehen, das zeigen die Pflegepersonaluntergrenzen von Jens Spahn.
Inwiefern?
Weil unter den aktuellen Konkurrenzbedingungen die Kliniken aktuell ermuntert wurden, Personal abzubauen, wenn sie oberhalb dieser Untergrenzen liegen. Man muss bedenken: Im Vergleich mit andern Ländern steht Deutschland beim Verhältnis Pflegekräfte /Patienten unterirdisch da.
Mit welchen Widerständen ist zu rechnen und durch welche Gruppen?
Die Krankenkassen sind der schärfste neoliberale Akteur. Sie setzen sich für Krankenhaus-Schließungen ein und haben Möglichkeiten, selektive Verträge abzuschließen, womit sie die Kliniken gegeneinander ausspielen. Obwohl sie wissen, dass viele überflüssige Knie- und Wirbelsäulen-OPs gemacht werden. Bei den Krankenkassen hat es eine ähnliche Entwicklung wie bei den Kliniken gegeben, sie wurden von innen heraus verändert und agieren heute auch wie Unternehmen.
Wer sind die Profiteure der Privatisierung der letzten Jahrzehnte?
Es sind vor allem private Krankenhauskonzerne; Private-Equity-Fonds haben sich in diesem Bereich noch nicht so breitgemacht, sie agieren aktuell mehr im Pflegebereich und im ambulanten Sektor. Die privaten Konzerne machen gute Profite mit den Krankenhäusern. Für sie gibt es bislang nicht so viel Grund zur Beschwerde. Die jetzigen Pläne bedeuten allerdings mehr Bürokratie in den Kliniken. Auf der andern Seite glaube ich, der Widerstand der Beschäftigten wird sich fortsetzen. Die Bewegung in der Pflege seit 2015 hat das in Gang gebracht, was wir gerade beobachten. Wenn man sich die Streiks in Berlin oder in NRW für einen Tarifvertrag Entlastung anschaut, sind diese beeindruckend. Es passiert sehr viel.
Wie sehen sie die Rolle der Ärzteschaft? Profitieren nicht Chefärzte vom jetzigen System, wenn sie am Jahresende Boni einstreichen?
Ja, solche Verträge gibt es, in denen z.B. Zielzahlen für bestimmte OPs genannt werden. Aber ich würde die Ärzteschaft nicht zu den Profiteuren zählen. Viele leiden nach meinem Eindruck, weil sie nicht mehr die Hoheit über ihr Tun haben. Jetzt haben sie einen Ökonomen über sich. Das finden Ärzte nicht gut, egal ob sie Linke sind oder Konservative.
„Das Wort Personalmix im Koalitionsvertrag ist verräterisch“
Nadja Rakowitz
Deutschland hat im Vergleich zu Ländern wie den Niederlanden sehr viele Krankenhausbetten pro Einwohner. Warum ist das so?
In Dänemark ist es ähnlich wie in den Niederlanden, aber ich halte das für eine schwierige Diskussion. Es werden auch unterschiedliche Zahlen genannt, die außerdem schwer zu vergleichen sind, weil andere Strukturen unter den Tisch fallen. Dass bei uns zurzeit tatsächlich Betten fehlen, sieht man an den schlimmen Zuständen auf den pädiatrischen Stationen. Man müsste sich die Situation in Ländern wie Dänemark genauer anschauen, ist das gut für die Bevölkerung, welche ambulanten Angebote gibt es dort? Bevor wir von einer Überversorgung sprechen, müssen wir zuerst die Frage klären: Was ist der Bedarf? Der ist im Moment nämlich ökonomisch und damit auch durch Fehlanreize definiert. Wenn die Gesundheitsökonomen und -politiker heute einfach Dänemark zum Maßstab nehmen und von dieser Warte Schließung als Ziel vorgegeben, basiert das auf einfachen Rechenvergleichen zwischen Bevölkerungszahlen und Krankenhauszahlen. So einfach geht das aber nicht. Es gibt sehr viele andere Faktoren, die hier berücksichtigt werden müssen.
Zurzeit wird an einem neuen Instrument für einen bedarfsgerechten Personalschlüssel gearbeitet. Glauben Sie, die Koalition bringt etwas Ernstzunehmendes auf die Beine?
Das Thema halte ich jedenfalls für sehr wichtig. Und man müsste allerdings alle Beschäftigten miteinbeziehen, also auch diejenigen, die in den Kliniken Essen verteilen, Patiententransporte machen usw. Spahn hat gesagt, er wolle nur einen Anstoß geben, die Beteiligten, also DKG, ver.di und der Deutsche Pflegerat, sollen selbst ein Instrument entwickeln. Das haben sie mit der PPR 2.0 auch getan und pünktlich vorgelegt. Dann kam aber Corona und alles wurde verschoben. Nun arbeitet Lauterbach an etwas Neuem. Im Koalitionsvertrag stand allerdings, dass ein „Personalmix“ eingeführt werden müsse – ein verräterisches Wort, das letztlich auf eine Absenkung des Qualifikationsniveaus zielt. Die Privaten arbeiten schon länger daran, ein Stichwort ist der 60/40-Mix, wonach nur noch gut die Hälfte der Pflegenden eine dreijährige Ausbildung hätten.
Andererseits ist viel von Akademisierung in der Pflege die Rede. Wohin glauben Sie geht die Entwicklung?
Dahinter steckt die Idee einer neuen Arbeitsteilung, und die passt zu dem angesprochenen Qualifikationsmix. Auf der einen Seite haben sie dann eine kleine Gruppe Akademisierte, auf der andern Hilfskräfte, die die Arbeit machen. Grundsätzlich ist aber die Idee begrüßenswert, Leuten mit dreijähriger Ausbildung eine akademische Weiterbildung zu ermöglichen und die horizontale Durchlässigkeit zu erhöhen.
Und die Ärzte – schaut man sich die Situation nachts und an Wochenenden in den Kliniken an, bekommt man den Eindruck eines dramatischen Mangels. Auch die Belastung in der fünfjährigen Assistenzarztzeit ist enorm.
Das ist schwer zu beurteilen. Es scheint tatsächlich ein Mangel zu bestehen, obwohl die Zahl der Ärzte in den Kliniken angestiegen war, während die der Pflegekräfte sank. Das liegt zum Teil auch dem Urteil des EuGH zum Bereitschaftsdienst. Ökonomisch erschient es bislang so: Der Arzt „sitzt an der Kasse“, steht also auf der Einnahmen-Seite, weil er geldwerte Diagnostik und Therapie anordnet. Die anderen Beschäftigten-Gruppen verursachen dagegen Kosten. Die Pflegebudgets haben daran etwas geändert, weil dieser Posten nun voll refinanziert wird und deshalb aus der DRG-Betrachtung rausfällt. Heute haben wir mit dem Pflegebudget aber den Anreiz, auch Ärzte einzusparen – deren Leistungen müsste man dann wohl auf die übriggebliebenen Ärzte und die Pflegekräfte verteilen. Helios hat vor einiger Zeit angekündigt, sie wollen 10 % der Ärzte einsparen.