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Kollegen duzen – gern. Aber Patienten …?

„Komm, mach mal den Mund auf, ich habe hier was Leckeres!“ – Bei solchen Sätzen denkt man vielleicht an einen jungen Vater und seine 1-jährige Tochter, die zu Hause am Küchentisch sitzen. Aber auch in deutschen Krankenhäusern sind solche Sätze die Regel, und zwar nicht nur auf pädiatrischen Stationen. Ich höre es immer wieder, dass ältere Patienten von Kollegen ungefragt geduzt werden. Meistens sind das Menschen mit Demenz (nicht die Mitarbeiter, die Patienten ;-)), aber nicht nur. Ich finde das unprofessionell. Und respektlos.

Generell habe ich nichts gegen Duzen. Meine Frau bezeichnet mich manchmal als Duzmaschine. Auf meiner Station ist es normal, dass sich Pfleger und Ärzte duzen, die einzige Ausnahme ist der Chefarzt, den man aber auch nur alle Jubeljahre zu Gesicht bekommt. In der Regel duze ich auch die Kollegen von Physiotherapie, Essens-Service, Reinigung. Irgendwie haben wir alle dasselbe Ziel, wir begegnen uns auf Augenhöhe.

Manchmal duzen mich auch Patienten, überwiegend Männer, in der Regel ungefragt. Das stört mich fast nie. Manche fordern mich auf, zurückzuduzen: „Ich bin der Jürgen“, sagte neulich einer nach ein paar Tagen auf unserer Station. Ich könne ruhig du sagen – „wenn die Ärzte nicht dabei sind“, schob er noch hinterher. Ich bin da allerdings zurückhaltend. Auch wenn ich Patienten oft sehr nahekomme und eine Beziehung aufbaue, steht immer die berufliche Ebene im Vordergrund. Manchmal muss ich auch Dinge durchsetzen, die ein Patient nicht so toll findet. Für mich würde sich duzen total seltsam anfühlen.

Das Argument der Dementen-Duzer ist meistens: Diese Patienten fühlen sich im Krankenhaus verloren, das Du ermögliche einen Vertrauensaufbau, gebe ihnen Sicherheit. Ich glaube nicht, dass es für Frau Müller mit fortgeschrittener Alzheimer-Erkrankung einen Unterschied macht, ob ich sie duze oder sieze. In meiner Demenzfortbildung haben wir darüber gesprochen, unsere Demenzexpertin sah das genauso. Ihr fiel kein stichhaltiges Argument für das Duzen ein. Was im Umgang mit diesen Menschen wichtig ist, sind Mimik, Körpersprache, Geduld.

Mit Duzen allein baut man keine Beziehung auf. Man fällt nur mit der Tür ins Haus.

Einsam und verloren: Mit Demenz im Krankenhaus

Letzte Woche zu Beginn des Spätdienstes schaue ich mit meinem Kollegen kurz nach Patient H. Der Mann hat eine fortgeschrittene Demenz und ist schon einmal bei uns gestürzt. Als wir die Tür aufmachen, kommt er uns gerade entgegen: Nackt und orientierungslos klammert er sich an einen Stuhl, auf dem Boden ist überall Blut, das zähflüssig aus seinem Penis tropft. Offensichtlich hat er sich gerade den geblockten Blasenkatheter herausgezogen.

Demenz ist – abgesehen von Ausnahmen – eigentlich eine Kontraindikation für einen Blasenkatheter, also ein Ausschlusskriterium. Ich sehe bei uns trotzdem ständig Menschen mit Demenz und Blasenkatheter. Gerade Männer kommen oft nicht damit klar, dass da ein Schlauch in ihrem Penis steckt, und ziehen kräftig daran. Mit den immer gleichen Folgen, siehe oben. Solche Patienten bluten oft ausgiebig und brauchen dann manchmal Blutkonserven, was übrigens auch sehr viel Geld kostet. Außerdem benötigen sie nun wirklich einen Blasenkatheter, und zwar jetzt einen so genannten Spülkatheter, der verhindern soll, das Blutpfropfen die Harnröhre verstopfen. Ein Teufelskreis. Patient H haben wir Fäustlinge angezogen. Sie sehen etwa so aus wie Boxhandschuhe und verhindern, dass man den Katheterschlauch greifen und herausziehen kann. Oder sonst irgendetwas mit seinen Händen machen.

Man liest öfter den Satz, dass Krankenhäuser für Menschen mit Demenz gefährliche Orte sind. Das ist nicht übertrieben. Und es ist ein riesiges Problem, wenn man sich klar macht, dass in Deutschland ca. 1,7 Millionen Menschen an Demenz leiden und diese Gruppe allein altersbedingt sehr häufig in Kliniken eingeliefert wird. Die Krankenhäuser sind aber nicht eingestellt auf solche Menschen, weder personell noch vom pflegerischen Know-how. Und für diese Patienten bedeutet der Klinikaufenthalt oft einen negativen Schub in ihrer Erkrankung.

Ein wesentliches Problem: Diese Leute brauchen sehr viel Zuwendung, weil sie oft schon nicht verstehen, wo sie überhaupt sind und wieso. Sie brauchen ihre gewohnte Umgebung, um sich halbwegs im Alltag zu orientieren und sicher zu fühlen. Im Krankenhaus fällt das weg, alles ist neu und ungewohnt, das führt zu Verunsicherung und Angst. Jetzt finden sich die Leute noch schlechter in ihrem Leben zurecht, werden unruhiger, verwirrter – ein Teufelskreis. Das hat sich durch Corona mit den eingeschränkten Besuchsregeln noch verstärkt, tagelang schauen diese Patienten in kein bekanntes Gesicht und verzweifeln.

Oft spricht man am Telefon mit Verwandten und ist überrascht: Der Opa kam zu Hause noch ganz gut zurecht, bei uns bekommt er kaum einen sinnvollen Satz zustande. Was die Sache noch komplizierter macht: Oft ist auch ein Delir im Spiel, auch als „Durchgangssyndrom“ bekannt, das zum Teil ähnliche Symptome aufweist wie Demenz, aber sehr plötzlich auftritt – anders als viele glauben allerdings nicht nur nach Operationen: Jeder Krankenhausaufenthalt bringt für ältere Patienten ein erhöhtes Delir-Risiko mit sich.

Zudem sind solche Leute, wenn die Demenz fortschreitet, zunehmend unberechenbar, sie schmeißen Sachen um, legen sich ins falsche Bett, rufen unentwegt laut um Hilfe, ziehen sich venöse Zugänge (oder eben Katheter), versuchen abzuhauen und so weiter. Mit dem aktuellen Personalschlüssel auf Stationen wie meiner ist es unmöglich, solchen Leuten gerecht zu werden, gerade auf internistischen Stationen, wo manchmal 20 oder mehr Prozent der Patienten eine Demenz haben.

Ein weiteres Manko: Die Kommunikation mit diesen Patienten ist eine echte Herausforderung, mit der viele in der Pflege schlicht überfordert sind. In meiner Fortbildung fiel der Satz: Bei fortgeschrittener Demenz spielt Vernunft keine Rolle mehr, es geht nur noch um Gefühle. Und das Krankenhaus bringt für die Leute fast nur negative Gefühle mit sich: Sie wissen nicht, wo sie sind, vermissen vertraute Menschen, müssen schmerzhafte Behandlungen ertragen, Regeln einhalten, die sie nicht verstehen und sich nicht merken können etc. Darauf einzugehen, kostet für uns als Pflegende Geduld, Einfühlungsvermögen und Frustrationstoleranz.

Stattdessen wird im Alltag immer wieder an die Vernunft appelliert, auf Fehler hingewiesen und auf Regeln gepocht. Man redet einfach so, wie man es gewohnt ist, als hätte man einen klar denkenden Menschen vor sich. Alles sinnlos. Aber irgendwie auch verständlich, denn das System Krankenhaus funktioniert nicht ohne Regeln.

Immerhin: Wir haben ein Demenz-Team im Haus, aber es besteht nur aus zwei Kolleginnen. Sie entlasten im Frühdienst die Stationen bei der Pflege, was angesichts ihrer Personalstärke natürlich nur ein bescheidener Beitrag sein kann. Außerdem setzen sie sich für die betroffenen Patienten ein und sind im Hause auch sehr gut vernetzt. Und schrecken auch nicht davor zurück, sich mit Oberärzten anzulegen. Zum Beispiel, wenn es um Operationen mit fraglichem Nutzen geht oder um Verlegungen innerhalb des Hauses auf Privatstationen, die eben wieder einen zusätzlichen Ortswechsel bedingen und bei den Betroffenen meist zu noch mehr Desorientierung führen. Aber egal, Hauptsache, es bringt mehr Geld.

Außerdem bietet das Demenzteam Fortbildungen für die Pflege an. Das Interesse hält sich aber sehr in Grenzen, die Resonanz ist enttäuschend. Das Thema ist ja auch nicht gerade sexy.

P.S.: Gestern kam ich nach dem Wochenende zum Dienst und erfuhr, dass Patient R, der schon eine Weile bei uns liegt und sehr verwirrt ist, zwischendurch einen Blasenkatheter hatte. Ein Kollege hatte ihn kurzerhand gelegt, keiner wusste, wieso. Vielleicht weil er keine Lust hatte, mehrmals am Tag die Windel zu wechseln. Gebracht hat es ihm wenig. Als er das nächste Mal ins Zimmer kam, hatte R das Ding schon wieder rausgerissen.