Ich muss zugeben, ich habe mir nicht die gesamte Sendung „Pflege ist nichtselbstverständlich“ von Joko und Klaas angesehen, 7 Stunden Pflegereportage. Klar, die Initiative ist vorbildlich, und es ist beachtlich, dass sie so viel Sendezeit bei Pro7 herausgeschlagen haben. Klar sind aber noch zwei Sachen. Erstens lässt sich leider mit einem einzelnen TV-Beitrag sehr selten eine echte Veränderung anstoßen. Das superpositive Medienecho erinnert ein bisschen an das Corona-Klatschen von den Balkonen. Gut gemeint, aber auch sehr einfach. Zweitens ist die Schicht der Kollegin an der Uniklinik Münster ein Spaziergang im Vergleich zu dem, was an vielen Tagen auf zahllosen anderen Stationen im Land abläuft, zum Beispiel auf meiner. Die Realität, die ich erlebe, ist sehr anders. Und sehr viel schlimmer.
Man muss sich ja klar machen: Die Uniklinik Münster hat dem Projekt im Voraus zugestimmt und sich das sicher gut überlegt. Bestenfalls ein PR-Coup, schlimmstenfalls ein PR-Desaster. Kein Krankenhaus würde das, was bei uns zum Beispiel diese Woche wieder abläuft, ungefiltert der Öffentlichkeit zugänglich machen: ständige massive Unterbesetzung, organisatorisches Chaos, unzählige Aufgaben, die unerledigt bleiben, demente Patienten, denen niemand gerecht wird, Pausenzeiten, die einfach entfallen usw. In dem Moment, wo meine PDL weiß, dass ich morgen im Frühdienst mit einer Kamera über die Station laufe, verändert sich diese Realität natürlich rapide. So etwas ist dann Chefsache und wird im großen Stil vorbereitet. Man will sich ja gut verkaufen. Da darf zum Beispiel nicht passieren, was ich heute erlebt habe. Während der Nacht rufen zwei von vier examinierten Kollegen vom Frühdienst an und melden sich krank. Dann müssen die verbleibenden Kolleginnen eben ein paar Zimmer mehr machen. Ist nicht wirklich zu schaffen, aber was will man machen?
Die Stimmung, die dann morgens bei der Übergabe herrscht, wäre ein schöner Einstieg für eine Reportage. Bekommt man nicht zu sehen. Man wird auch nicht im TV erleben, wie ein Chefarzt eine junge Kollegin anschreit, weil ein Patient seiner Meinung nach viel zu spät zur Dialyse gebracht wird. Aber es ist nun mal Samstagmorgen, also ist keine Servicekraft auf Station und wir als Pflegende müssen das Frühstück selber austeilen. Denn erst nach dem Frühstück werden die Patienten zur Dialyse gefahren. Doch davor liegt ein Berg an Aufgaben. Nachdem die Übergabe gelaufen ist, müssen Tabletten kontrolliert und die erste Runde absolviert werden, in der Medikamente verteilt, Infusionen angehängt, Vitalzeichen gemessen, Katheterbeutel geleert werden, Blutzucker gemessen und zum Teil Insulin gespritzt wird, Patienten auf die Waage gesetzt, schmutzige Windeln gewechselt werden, man sich von jedem Patienten einen Eindruck verschafft, Fragen beantwortet, an nicht funktionierenden Zugängen rumdoktert, Sauerstoff verabreicht, Werte und Eindrücke im Computer dokumentiert. Und und und. Und das sind nur die ersten zwei bis drei von acht Stunden.
Dazu kommen die Sachen, die schief gehen und zusätzliche Zeit kosten: Ständig fehlt Material, das auf anderen Stationen geliehen werden muss: Handtücher, Infusionsmaterial, Kochsalzlösung, Medikamente. Eine Waage ist kaputt, das Blutzuckermessgerät, der Computer streikt, die Bestellung der Opiate hat nicht geklappt, wo bekommen wir jetzt das Palladon her, das drei Patienten brauchen? Das Bett lässt sich nicht verstellen, der Infusomat in Zimmer 12 gibt alle fünf Minuten ohrenbetäubende Warnsignale von sich, der Patientenfernseher/das Telefon ist kaputt, Herrn Müller ist angeblich sein Portemonnaie gestohlen worden.
Das wäre nur zu schaffen, wenn die Besetzung entsprechend wäre. Eigentlich müssten auf meiner Station im Früh- und Spätdienst vier examinierte Kollegen auf dem Plan stehen. Das ist aber die Ausnahme. Also ist man darauf angewiesen, wenigstens genug Praktikanten und Auszubildende („Schüler“) auf Station zu haben, an die man einfache Aufgaben delegieren kann. Aber zum einen ist auch das oft nicht der Fall. Zum anderen sollen die Schüler etwas lernen und nicht nur Blutdruck messen, Patienten zum EKG schieben oder ins Labor rennen.
Und dann ist da natürlich das spezielle Klientel, das man oft auf internistischen Stationen hat: viele sehr alte Patienten, bettlägerig, dement, inkontinent. Solche Leute machen ungeheuer viel Arbeit. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, wo wir nur zu dritt waren und gerade wieder ein paar besondere Patienten auf Station hatten, allein sieben mit Demenz. Einer davon war spurlos verschwunden und ich rannte durchs Haus, hatte Angst, dass er in einem Treppenhaus umgekippt ist. Irgendwann brachte ein Kollegin ihn vorbei. Es reicht ja manchmal ein einzelner Patient, um die ganze Schicht zu sprengen. Wenn sich zum Beispiel plötzlich der Zustand dramatisch verschlechtert. Oder wie an diesem Nachmittag ein weiterer dementer Patient sich den Blasenkatheter aus der Harnröhre zieht, was zu massiven Blutungen führte. Dann muss ein Spülkatheter gelegt werden. Solche Leute erzählen einem auch häufig, dass sie aufs Klo müssen. Dann zeigt man ihnen ihren Katheterbeutel und sagt: „Einfach laufen lassen, Sie haben einen Katheter.“ Kurze Zeit später schellen sie (wenn sie das noch können) oder rufen: „Hallo, hallo, ich muss auf Toilette!“