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Der Betreuerin ausgeliefert

Das ganze (freie) Wochenende musste ich an meine Patientin Frau S. (86) denken. Am Freitag hatte sie mich gefragt, wie es nun mit ihr weitergeht, und ich hatte ihr gesagt, dass sie nächste Woche ins Heim verlegt werden soll. Sie war aufgebracht, denn wie sich herausstellte, hatte ihre gesetzliche Betreuerin dem zugestimmt, ohne mit ihr darüber zu reden. Sie war noch mit vielem anderen unzufrieden, was ihre Betreuerin machte und nicht machte. Und so überlegte ich am Wochenende, wie ich ihr helfen könnte, wieder selbstständig über ihr Leben zu entscheiden. Ob ich mich da überhaupt einmischen sollte. Als ich am Montag zum Dienst kam, war Frau S. tot, ihr Herz war stehengeblieben. Alleinerbin ist ihre Betreuerin.

Nur einen Tag vor dem Gespräch mit Frau S. hatte ich in der SZ einen großen Artikel über genau dieses Thema gelesen. Darin ging es um eine Frau Anfang 50 mit psychischen Problemen, auch sie hatte eine gesetzliche Betreuerin, die praktisch über alle ihre Belange entscheiden konnte. Die Geschichte spielt in einer früheren Phase von Corona und es ging um die Frage der Impfung. Die Frau gehörte zur Risikogruppe, sie hatte eine fortgeschrittene COPD. Doch ihre Betreuerin ist Querdenkerin und tat alles, um die Impfung zu verhindern – mit Erfolg. Die Mutter der Frau machte sich große Sorgen, mehrmals wandte sie sich an Gerichte, am Ende flehte sie die Richter an, ihre Tochter von dieser Frau zu befreien. Doch die wiegelten ab. Im Frühjahr 2021 ist die Tochter an Covid gestorben.

Man fragt sich, wie es sein kann, dass eine Mutter nichts gegen den Willen einer Betreuerin ausrichten kann. Aber das ist die gesetzliche Realität in Deutschland, und sie ist laut SZ gar nicht so selten. Man muss nur bedenken, wie viele Menschen es gibt, die unter psychischen Krankheiten leiden. Wenn Behörden zur Überzeugung gelangen, dass jemand seine Belange nicht mehr erledigen kann, kommen Gerichte ins Spiel. Die bestimmen häufig als Betreuer oder Betreuerin bewusst nicht ein Familienmitglied, weil die Richter Interessenkonflikte ahnen oder Angehörige aus andern Gründen für ungeeignet halten.

Dann wird ein gesetzlicher Betreuer eingesetzt, und plötzlich hat eine wildfremde Person weitreichende Befugnisse. Bisweilen werden Fälle bekannt, wo solche richterlich eingesetzten Betreuer ihre Macht missbrauchen. Kritisiert wird zudem, dass man viel zu leicht Betreuer werden kann, die Anforderungen sind niedrig.

Bei meiner Patientin Frau S. war die Betreuerin schon sehr lange im Amt. Die beiden hatten sich aber schon vorher gekannt. Die Bekannte hatte ihr wohl immer mal wieder geholfen, Frau S. hatte weder Partner noch Kinder. Offenbar aus schlechtem Gewissen heraus oder um manche Dinge organisatorisch zu vereinfachen, hatte sie dann irgendwann zugestimmt, dass ihre Bekannte zur Betreuerin wurde. Und sie dann auch noch als Erbin eingesetzt. Doch inzwischen war das Verhältnis nicht mehr gut, so stellte es Frau S. jedenfalls dar. Sie hatte Angst, dass ihre Betreuerin an ihr Konto geht, in der Vergangenheit habe sie Besitz von ihr veräußert. In den Wochen, wo sie bei uns lag, kam die Frau kein einziges Mal zu Besuch. Es gab noch weitere Punkte.  Als Höhepunkt dann schließlich die Abschiebung ins Heim.

Das Thema mag exotisch klingen,wer glaubt schon, dass er oder sie unter Betreuung gestellt wird? Aber das kann sich schnell ändern. Auch bei einem medizinischen Notfall ist es keineswegs so, dass Angehörige automatisch entscheidungsbefugt sind. Und wer vertritt dann meine Interessen, wenn ich es selber nicht mehr kann, zum Beispiel nach einem schweren Unfall? Wer eine Person hat, der er oder sie vertraut, sollte sich darüber Gedanken, ob er ihr eine Vollmacht für solche Fälle erteilt. Wenn die vorliegt, ist die gesetzliche Betreuung aus dem Spiel. Die meisten Leute beschäftigen sich frühestens damit, wenn sie schon sehr alt sind. Das sehe ich bei der Patientenaufnahme, denn wir fragen jedes Mal, ob eine Vollmacht erteilt wurde.

Es gibt aber keinen Grund, damit zu warten. Man muss dazu auch keinem Notar Geld in den Rachen werfen, sondern kann das selbst aufsetzen. Ich habe es jetzt auf meine To-do-Liste geschrieben.