Ein Tag Warnstreik an fünf Unikliniken in NRW, das Medienecho ist groß und oft lautet die Überschrift: „Pflegekräfte streiken trotz Corona“. Ein schöner Kommentar dazu kommt vom Ärztlichen Direktor der Universitätsmedizin Essen. „Selbstverständlich gehört das Streikrecht zu den Grundfesten unserer Wirtschaftsordnung“, wird Professor Jochen A. Werner von dpa zitiert. Was eine typische Eröffnung im Stile von „Ich bin keine Rassist, aber …“ ist. Denn Gründe, warum das hochgehaltene Streikrecht gerade in diesem Fall zurückstehen muss, finden sich ja immer. Wenn Lokführer streiken, geht es auf Kosten der unschuldigen Pendler, und außerdem stecken bestimmt unlautere Motive dahinter. Bei den Pflegekräften stehen angeblich Menschenleben auf dem Spiel.
Das Argument gab es auch schon vor Corona und ist wohl mit ein Grund dafür, dass es in der Krankenpflege traditionell überhaupt keine nennenswerten Streiks gibt, mal abgesehen eben von den Unikliniken, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad höher ist, da es sich um Landesbetriebe handelt. Als ich bei einer konfessionellen Klinik gearbeitet habe, hörte ich öfter den Satz: „Streiken ist hier gar nicht erlaubt.“ Das muss man sich mal vorstellen. Ob man dort wohl entlassen wird, wenn man streikt? Oder exkommuniziert?
Nun finden aber gerade jetzt die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst statt, und die werden wegen Corona nicht auf den nächsten Sommer verschoben. Auch wenn die Arbeitgeber sicher nichts dagegen hätten. Was also bleibt Verdi anderes übrig, als jetzt für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen zu kämpfen? Natürlich gibt es eine Notdienstvereinbarung.
Dass der Applaus des Frühjahrs 2020 uns Pflegenden wenig gebracht hat, ist ja längst ein Allgemeinplatz geworden. Leider stimmt es aber. Alle sind sich einig, dass sich unbedingt etwas tun muss, dass die Bedingungen in der Pflege endlich verbessert werden müssen. Erreicht worden ist wenig bis gar nichts. Man kennt das aus anderen Bereichen: Es sind sich ja auch fast alle einig darin, dass das mit dem Klimawandel so nicht weiter gehen kann, die Mieten nicht weiter rasant steigen dürfen und die Schere zwischen Arm und Reich sich weiter öffnen. Trotzdem passiert genau das.
Von den Folgen liest man jetzt täglich, wenn es um die vierte Welle geht: Die Krankenhäuser können nicht mehr so viele Patienten aufnehmen, weil seit Beginn der Pandemie viele Pflegekräfte hingeschmissen haben. Sie haben die Belastung in ihrem Job nicht mehr ausgehalten. Zu Beginn von Corona wurde eifrig darüber diskutiert, dass wir die Kapazitäten in den Krankenhäusern ausbauen müssen, um auf solche Krisen reagieren zu können. Aber stattdessen sind die Kapazitäten geschrumpft. Und nun sagt der oben zitierte Ärztliche Direktor, dass er es „nicht nachvollziehen“ kann, dass die Pflegekräfte gerade jetzt streiken. Damit ist ihm wieder eine weitere Variante des alten Spiels eingefallen: Das Streikrecht ist uns heilig, aber doch nicht jetzt! Es sollten doch bitte die anderen Berufsgruppen streiken, die von den momentanen Verhandlungen betroffen sind, sagt Werner. Die Krankenschwestern und Pfleger sollen also schön brav weiterschuften und die Klappe halten.